R. Jaun: Geschichte der Schweizer Armee

Cover
Titel
Geschichte der Schweizer Armee. Vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart


Autor(en)
Jaun, Rudolf
Erschienen
Zürich 2019: Orell Füssli Verlag
Anzahl Seiten
548 S.
Preis
CHF 54.90; € 68,00
von
Marco Jorio

Militärgeschichte ist in der Schweiz zurzeit nicht en vogue. Sie ist im Gegensatz zum Ausland aus den Hochschulen weitgehend verschwunden, um nicht zu sagen: entfernt worden. Auch fundierte Studien zur Militärgeschichte der Schweiz sind eher rar geworden. Daher ist die Publikation einer neuen Armeegeschichte aus der Feder von Rudolf Jaun, Titularprofessor der Universität Zürich und Alt-Meister der schweizerischen Militärgeschichte, ein besonderes Ereignis. Die letzte Armeegeschichte stammt von Hans-Rudolf Kurz (1985) und atmet noch den Geist des Kalten Kriegs.

Im Gegensatz zu den «klassischen» Darstellungen, welche die institutionelle und materielle Entwicklung des schweizerischen Wehrwesens von ihren Anfängen bis heute ins Zentrum setzten, verfolgt Jaun einen neuen, von der angelsächsischen Geschichtsforschung inspirierten Ansatz. Er stellt die Geschichte der Schweizer Armee in den Kontext der europäischen Streitkräftebildung, der Waffenentwicklung und der neuen Kampfverfahren und untersucht, wie sich die sechs Military Revolutions, eigentliche Wandlungsperioden, seit dem 17. Jahrhundert in der Schweizer Militärpolitik niederschlugen. Das alt-eidgenössische Wehrwesen vor 1600 bleibt ausgeklammert. Jaun behandelt jede Wandlungsperiode im Rahmen der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen der Schweiz, etwa der Neutralität oder des Milizwesens, die Militärdebatten, die Ausgestaltung der Dienstpflicht, der Rüstung sowie der Armeeorganisation, den Wandel der Kampfführung, der Ausbildung, der Bestandesentwicklung, der Organisation von Stäben und Truppen, der Mobilmachung sowie die Einsätze der Armee in Friedens- und Kriegszeiten.

Die erste Militärrevolution, die «Oranischen Reformen», setzte in Holland um 1600 ein. Sie ist verbunden mit der Bildung von formalisierten Truppenverbänden und der Standardisierung der Kampfausbildung und Kampfführung, vor allem im Bereich der Feuerwaffen. Damit hatte sich die alt-eidgenössische Kampfführung mit ihren wuchtigen Kriegerhaufen überlebt. Aber nur die beiden reichen Städteorte Zürich und Bern sowie die Solddienstregimenter setzten die Prinzipien der Oranischen Reformen rasch und konsequent um. Andernorts verlief die Entwicklung zögerlich.

Die zweite Militärrevolution wurde durch die Französische Revolution angestossen, als nationale, kostengünstige Massenheere auf der Basis des Bürgersoldaten neue Kampfverfahren entwickelten, die vor allem Napoleon meisterhaft beherrschte. Die Schweiz versuchte mit mehreren Militärorganisationen der internationalen Entwicklung mehr schlecht als recht zu folgen, bis schliesslich 1874 das Militärwesen auf Bundesebene zentralisiert wurde.

Die dritte Militärrevolution war das Ergebnis von Industrialisierung, Bevölkerungswachstum und enormen technischen Entwicklungen, etwa bei der Feuerkraft der Artillerie, im Transportwesen (Eisenbahnen) und in der Telekommunikation. Sie endete im Ersten Weltkrieg im statischen Grabenkrieg ohne militärische Entscheidung. In der Schweiz war es vor allem Ulrich Wille, der die Schweizer Milizarmee mit eiserner Disziplin und nach preussischem Vorbild auf das Niveau der ausländischen Armee drillen wollte.

Die vierte Militärrevolution brachte wieder Dynamik ins Kriegsgeschehen: Motorisierung, Mechanisierung (Panzer), Luftwaffe und Unterseeboote erlaubten die bewegliche Kampfführung in der Tiefe des Raums. Totalitäre faschistische, nationalsozialistische und kommunistische Staaten mobilisieren alle materiellen und ideologischen Ressourcen ihrer Völker im kostspieligen «totalen Krieg». In der Schweiz vereitelten die Losung «Nie wieder Krieg» und knappe Finanzen eine Modernisierung der Armee. Die Wiederaufrüstung angesichts der deutschen Bedrohung ab 1933 kam zu spät, so dass in der Bewährung des Zweiten Weltkriegs nur eine statische Verteidigung, zuerst in der Limmatstellung, dann im Reduit möglich war.

Die fünfte Militärevolution begann am 6. August 1945 mit dem Abwurf der ersten Atombombe. Sie führte zum Aufbau riesiger Nukleararsenale, ohne dass dadurch der konventionelle Krieg aufgegeben worden wäre. Gleichzeitig entwickelte sich die asymmetrische Kampfführung im Rahmen von Befreiungs- und Revolutionskriegen sowie als Antwort darauf die «Counterinsurgency»-Kampfweise. Nach einem erbitterten Konzeptionsstreit entstand schliesslich 1966 quasi als eidgenössischer Kompromiss die Gefechtsform der Abwehr, bestehend aus Angriff und Verteidigung, die sich aber in ihrer defensiven Grundidee deutlich von der mobilen Kriegführung der NATO und des WarschauerPakts unterschied.

Die sechste Militärrevolution verortet Jaun in der «beschleunigten Asymmetrisierung der Kriegführung nach dem Kalten Krieg». Stichworte dazu sind die digitale Vernetzung der militärischen Systeme, präzise, «chirurgische» Gewaltanwendung auf der Seite der hoch entwickelten Staaten und als Antwort der Schwächeren Klein- und Bandenkrie-ge bis hin zum Terror. Die Schweiz antwortete mit drei sich rasch folgenden Armeereformen, die aber Abbauschritte waren («Friedensdividende»), ohne dass die an Akzeptanz verlierende Armee den hohen Anforderungen an die heutigen Streitkräfte gerecht geworden wäre.

Der Reiz der neuen Armeegeschichte Jauns liegt in der Darstellung, wie die eidgenössischen und kantonalen Eliten unablässig versuchten, militärisch mit dem Ausland Schritt zu halten und dabei eigentlich immer der internationalen Entwicklung mal mehr, mal weniger hinterherrannten. Die Eidgenossenschaft war kein Treiber in der militärischen und kriegstechnischen Entwicklung. Heute steht die Staatsbürgerarmee wieder einmal – wie in der Zwischenkriegszeit – nicht in bester Verfassung da: Für die Realisierung der Reformen nach 1990 standen die nötigen finanziellen Mittel nie zur Verfügung, die Rüstungsgüter sind vergleichsweise veraltet und die Personalbestände erreichen die SollWerte nicht. Dank der starken Gewichtung der letzten Jahrzehnte und der Behandlung von aktuellen Armeefragen leistet Jauns Armeegeschichte auch einen Diskussionsbeitrag zur künftigen Sicherheitspolitik der Schweiz.

Zitierweise:
Jorio, Marco: Rezension zu: Jaun, Rudolf: Geschichte der Schweizer Armee. Vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Zürich 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (1), 2021, S. 178-180. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00080>.

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